Er war der Kopf der Basler Schulreformen. Nach seinem Abschied aus dem Erziehungsdepartement kehrte er nochmals zurück in die Schule – eine Primar im Kleinbasel. Nun spricht Hans Georg Signer im ersten Teil des Monatsgesprächs offen darüber, was im Bildungsbereich falsch läuft. Die Praktikerinnen und Praktiker müssten wieder mehr Einfluss erhalten, sagt er. Gerade auch in der Coronakrise.
Herr Signer, wie geht es den Schulen nach bald 18 Monaten Pandemie?
Ich würde da klar unterscheiden zwischen dem eigentlichen Lockdown und den späteren Phasen mit den Einschränkungen. Schwierig war vor allem der Lockdown. Da gab es einige Kinder und Jugendliche, denen daheim die Voraussetzungen fehlten, um in Ruhe arbeiten zu können. Verschiedene Schulen – darunter auch unsere Primarschule – haben deshalb entschieden, solche Schülerinnen und Schüler in die Schule kommen zu lassen.
Erlaubt gewesen wäre es aber nicht.
Das war eine grosszügige Interpretation der generellen Regelungen unter Berücksichtigung der Schutzvorschriften. Gerade in einer Krise brauchen wir Lösungen, die auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler und die jeweilige Situation zugeschnitten sind. Trotz Abstandsregel muss etwa eine Kindergärtnerin die Möglichkeit haben, ein weinendes Kind auf den Schoss zu nehmen, um es zu trösten. Oder anderes Beispiel: Hier im Kleinbasel haben längst nicht alle einen Computer, aber alle ein Handy und sie alle kommunizieren per WhatsApp. Also nutzen auch wir diesen Kanal für die Kommunikation mit den Kindern und ihren Eltern.
Was rechtlich aber auch heikel ist.
Ich kenne da keine Details, aber ich nehme mal an, Sie sprechen den Datenschutz an.
Genau.
Da habe ich einen pragmatischen Ansatz. Eine Schule auf dem Bruderholz kann sich in dieser Hinsicht wahrscheinlich ohne Weiteres an alle Vorgaben halten. Wenn wir im Kleinbasel aber auf WhatsApp verzichten, reisst der Kontakt mit einigen Familien ab. Darunter würden die Schwächsten am meisten leiden. Das kann nicht sein, Datenschutz hin oder her.
Sind Sie auch so grosszügig im Umgang mit Corona-Skeptikerinnen und Skeptikern, die sich in der Schule zum Beispiel weigerten, trotz Pflicht Masken zu tragen?
An unserer Schule, der Primarschule Insel in Basel, ist diese Regel von den Schülerinnen und Schülern sehr gut akzeptiert worden. Unter den Lehrpersonen gab es einzelne, die ein fragwürdiges Attest vorlegten und sich weigern wollten. In dieser Frage nahm ich aber einen sehr klaren Standpunkt ein: Eine Lehrperson hat einen Auftrag und dazu gehörte in dieser Phase auch das Tragen einer Maske. Darüber zu diskutieren, führt zu gar nichts – ausser zu Spannungen und Spaltungen innerhalb eines Teams.
Das ist jetzt aber auch nicht unbedingt ein demokratischer Ansatz.
Die Schule ist der falsche Ort, um diese Auseinandersetzung zu führen. Das ist Sache der öffentlichen und politischen Debatte. Als Schulleiter erkläre ich einer Lehrperson auch gerne noch einmal, warum verlangt wird, eine Maske zu tragen. Dann erwarte ich, dass sie das verstanden hat oder die Konsequenzen zieht und geht. Eine Schule sollte nie so tun, als wäre alles und jedes Teil des partizipativen Prozesses. Die Schule hat einen demokratisch legitimierten Auftrag.
Reagieren Sie auch so strikt, wenn Schülerinnen und Schüler Verschwörungstheorien verbreiten?
Nein. Die Fähigkeit, kritische Urteile fällen zu können, muss man sich erwerben; sie ist ein ganz wichtiger Entwicklungsschritt im Leben eines jungen Menschen. Dabei müssen wir ihn unterstützen und darum müssen wir uns auch mit seiner Lebenswelt auseinandersetzen.
Kommt man an Schülerinnen und Schüler überhaupt noch heran, die überzeugt sind, Corona sei eine Erfindung von Bill Gates und mit den Impfungen würden nun alle gechipt.
Aufzuzeigen, was richtig ist und was falsch, ist eine enorm wichtige Aufgabe: aufklärerische Arbeit im besten Sinne des Wortes und damit gelebte Demokratie. Aber tatsächlich auch eine sehr schwierige Aufgabe – umso mehr, als es auch Eltern und wenige Lehrpersonengibt, die gegenüber wissenschaftsbasierter Information immun sind und in dieser Hinsicht in einem Paralleluniversum leben.
Nach den Sommerferien könnten mit neuen Varianten und steigenden Fallzahlen bald wieder grössere Probleme auf die Schulen zukommen. Wichtig seien darum pragmatische Lösungen und Entlastung für die Schülerinnen und Schüler etwa auch vom Notendruck, schrieb der deutsche Pädagogik-Professor Menno Baumann auf Twitter. Kriegt unser Schulsystem das hin?
In dieser Hinsicht hat sich unser System leider nicht immer als flexibel erwiesen. Sonst wäre es nicht so schwierig gewesen, auf Bundeebene eine gute Lösung rund um den Matur-Abschluss 2020 zu finden. Da gab es erst einmal viele hitzige Diskussionen, dann entschied eine Reihe von Kantonen, die Prüfungen ganz ausfallen zu lassen, während andere das volle Programm durchzogen, als wären in den letzten Monaten der Vorbereitung alles ganz normal abgelaufen. Sehr viel sinnvoller wäre eine Mischlösung gewesen, die einerseits den besonderen Umständen Rechnung getragen und andererseits garantiert hätte, dass die Abgängerinnen und Abgänger ein „richtiges“ Abschlusszeugnis und nicht einfach nur eine «Covid-Matur» erhalten.
Es gab Lehrpersonen, die ähnlich unzufrieden mit den ewigen Diskussionen über die Matur waren und sich mit konstruktiven Vorschlägen in die Diskussion einzuschalten versuchten. Das kam nicht sehr gut an bei den kantonalen Bildungsbehörden.
Es ist sehr schade, dass den Praktikerinnen und Praktikern nicht mehr Gehör geschenkt wird. Als Schulratspräsident habe ich dem Erziehungsdepartement im letzten Jahr darum den Antrag gestellt, dass die neuen Entscheide in Zusammenhang mit «Corona» vor der Umsetzung erst einmal einer Minigruppe mit Vertreterinnen und Vertretern von allen Schulstufen vorgelegt werden. Die hätten dann innerhalb einer kurzen Frist sagen können, welche Vorschläge praxistauglich sind und welche eben nicht. Aber der Vorschlag wurde abgelehnt.
Herr Signer, werden Sie nach all den Jahren als Schulleiter und Chefbeamter jetzt noch aufmüpfig?
Ich bin mir in all den Jahren recht treu geblieben und auch heute alles andere als ein Behördenkritiker. Ich halte es für richtig, dass man in einer Krise vorsichtig ist und Entscheide schnell gefällt werden – top-down; die baselstädtischen Behörden haben aus meiner Sicht gute Arbeit geleistet. Gleichzeitig stelle ich fest, dass es eine Reihe von fehlerhaften Covid-Entscheiden gab, die nach ein, zwei Tagen schon wieder zurückgenommen oder korrigiert werden mussten. Dieses Hin und Her ist eine enorme Belastung für hunderte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und tausende von Schülerinnen und Schülern und Eltern. Dieser Ärger liesse sich vermeiden, indem man die Praktikerinnen und Praktiker frühzeitig einbeziehen würde. Solche Sounding Boards können gerade in Krisen geeignete Strukturen für die Verbindung der Management- und Praxisebene bieten.
Das Gespräch ist anfangs Juli geführt worden. Am kommenden Freitag erscheint der zweite Teil des Interviews. Thema: Die Vorteile der Digitalisierung – und die Gefahren.
Zur Person:
Hans Georg Signer (70) hat die Basler Schullandschaft in verschiedenen Funktionen geprägt – zuletzt zwischen November 2020 und Juli 2021 als interimistischer Leiter der Primarschule “Insel” im Kleinbasel. Daneben ist er auch noch Schulratspräsident der Sekundarschule und hat bei drei Zürcher Mittelschulen eine Evaluation durchgeführt. Bis 2014 war Signer Leiter des Bereichs Bildung im Basler Erziehungsdepartement und in dieser Funktion einer der leitenden Köpfe der Basler Schulreform. Nach Basel kam der Appenzeller für sein Biologie-, Mathematik- und Physikstudium. Nach 1976 unterrichtete er am Holbein-Gymnasium und während sieben Jahren parallel dazu auch noch am Lehrerseminar als Didaktiklehrer. 1992 wurde er Rektor am Holbein-Gymnasium, 1997 Rektor am Gymnasium Leonhard, 2002 wechselte er ins Erziehungsdepartement. Politisch war Signer für die SP aktiv – vor allem zwischen 1999 und 2006 als Verfassungsrat Basel-Stadt und Präsident der Kommission Bildung und Religionsgemeinschaften.