Die Schule: Hort der Freiheit, Ort der Unterdrückung

In der zweiten Staffel des Monatsgesprächs wird Hans Georg Signer grundsätzlich. In der Schule müsste Demokratie gelehrt und vor allem auch gelebt werden, sagt er. In der Praxis sei aber nur allzu häufig das Gegenteil der Fall. Mehr und mehr vernachlässigt werde zudem auch die Gemeinschaft.

Herr Signer, worum geht es eigentlich in der Schule – um Kontrolle oder um Freiheit und Partizipation?

Historisch gesehen um beides. Jahrhundertelang ging es in der Schule vor allem um Bindung. Bindung an die Bibel, Bindung an die Kirche, Bindung an die Antike, Bindung an die weltliche Obrigkeit. Oder anders gesagt: um Disziplinierung und Unterordnung. Dann kam die Aufklärung und mit ihr die Entdeckung des Individuums.

«Volksbildung ist Volksbefreiung», lautete das Motto.

Genau. Mit der Aufklärung wurde das Individuum entdeckt. Nun ging es in der Bildung einerseits um Selbstgestaltung und Selbstentfaltung, andererseits um Gemeinschaftsbildung. Nur der gebildete Bürger galt als guter, demokratiefähiger Bürger.

Welchen Stellenwert hat diese Idee heute noch?

Sie ist leider in den Hintergrund getreten. Heute meinen die meisten, der ursprüngliche Auftrag der Volksschule sei es gewesen, junge Menschen auf die Aufgaben in einer sich ausdifferenzierenden Arbeitswelt vorzubereiten. Aber diese Erwartung kam erst mit der zunehmenden Industrialisierung auf, das ist eigentlich nur ein sekundärer Auftrag. In der Volksschule ging es zuallererst um die Vorbereitung auf die Demokratie. Und das Leben von Demokratie. Eine schöne Idee. Die Institution selbst hat sich allerdings nie besonders demokratisch verhalten. Die öffentliche Volksschule war immer stark top-down geprägt. 

Ein Manko? 

Das ist sicher ein starker Widerspruch zum ursprünglichen Auftrag. Ich habe deshalb immer bewundert, wenn Schulen versuchten, eine Schule als Polis aufzuziehen, als Ort, wo die gemeinsamen Geschäfte durch die Gemeinschaft verhandelt, beschlossen und umgesetzt werden, partizipativ. 

Heute stehen andere Erwartungen im Vordergrund – “Kompetenzorientierung” zum Beispiel: Das einzelne Kind, die einzelnen Jugendlichen sollen sich in der Schule jene Fähigkeiten aneignen, die im Alltag nötig sind. Welche Rolle spielt die Idee der Gemeinschaft in diesem Konzept noch?

Die Qualifizierung für die Arbeitswelt wird heute priorisiert. Das Fachliche ist auch mir persönlich sehr wichtig. Die verschiedenen Fächer bieten ein Universum an guten Bildungsanlässen. Gerade an einer Schule wie der Primarschule Insel kann man aber erkennen, wie wichtig es ist, dass die Lehrpersonen viel in das Gemeinschaftsleben investieren. Das sorgt für ein gutes Klima, erleichtert das Erreichen der Bildungsziele und, ja, es macht die Schülerinnen und Schüler auch zu guten Bürgerinnen und Bürgern. Die fachliche und überfachliche Qualifizierung einerseits und die Gemeinschaftsbildung anderseits sind keine Widersprüche, sondern dringend nötige Ergänzungen: Das müssten wir uns wieder bewusst werden.     

Und was bedeutet diese verstärkte Ausrichtung auf die Arbeitswelt für die Schülerinnen und Schüler?

Sie sind heute sehr viel pragmatischer, als wir das früher waren. Sehr schön zeigt das die Shell-Studie, die seit den 50er Jahren im Abstand von rund vier Jahren die Haltung der Jugend in Deutschland analysiert. Der Titel einer der letzten Studien lautete: „Eine pragmatische Jugend behauptet sich“. Hätte man so etwas von Ihrer Generation sagen können?

Weiss ich jetzt gar nicht...

Sind wir doch ehrlich: Unsere Generationen hatten auch noch ganz andere Dinge im Kopf, lebten mehr noch vor sich hin und wählten das Studium ganz nach Interesse – oder gingen erst einmal auf eine Weltreise. Bei unserer Generation musste man sich nicht fragen, ob überhaupt je mal etwas aus uns wird. Allein schon mit der Matura hatten wir einen guten Platz in der Gesellschaft auf fast sicher. Heute ist das anders. Auch ein Masterstudium garantiert noch gar nichts. Wir erleben eine paradoxe Situation: Die Abschlüsse auf Hochschulebene werden immer wichtiger, obwohl sich an Wert verlieren. Die jungen Menschen sind zielstrebig. Das „Zwischenjahr“ ist zwar immer noch populär, aber sie wählen ihre Ausbildung stärker nach deren Nützlichkeit und machen dann vorwärts. 

Und wie gerecht ist die Schule eigentlich?

Da gibt es zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit in Form von Gleichbehandlung und Gerechtigkeit in dem Sinne, dass jede Schülerin und jeder Schüler genau das bekommt, was sie oder er gerade braucht. Zwischen diesen beiden Polen mäandert die Schule, ohne dass das gross zur Kenntnis genommen würde, wie mir scheint. In den Anfängen der Volksschule ging es um die Ablösung der Ständeordnung durch eine Gesellschaft, in der alle die gleichen Rechte haben. Dafür sollte die Schule die Grundlage schaffen. Dazu passte die Strategie: Alle werden gleich behandelt; alle lernen – zumindest auf der Volksschulstufe – dasselbe. Heute sind wir dagegen voll auf der Individualisierungswelle und grundsätzlich ist es natürlich auch richtig, dass alle möglichst optimal gefördert werden. Gleichzeitig müsste man sich aber auch fragen, an welchem Punkt dieser Anspruch ins Extreme kippt, der Gemeinschaft schadet und an die Ressourcen geht. Ich habe den Lehrerinnen und Lehrern im Insel-Schulhaus darum immer wieder gesagt: Jedes Kind in jeder Minute individuell zu fördern, das geht nicht. Das ist aber auch gar nicht nötig.

Im nächsten Teil des Gesprächs sagt Hans Georg Signer, welche Rechte die Schülerinnen und Schüler eigentlich konkret hätten. Und warum sie diese nicht wahrnehmen können. Dieser letzte Teil des Gesprächs ist ab dem 21. Januar online.

Zur Person:

Hans Georg Signer (70) hat die Basler Schullandschaft in verschiedenen Funktionen geprägt – zuletzt zwischen November 2020 und Juli 2021 als interimistischer Leiter der Primarschule “Insel” im Kleinbasel. Daneben ist er auch noch Schulratspräsident der Sekundarschule und hat bei drei Zürcher Mittelschulen eine Evaluation durchgeführt. Bis 2014 war Signer Leiter des Bereichs Bildung im Basler Erziehungsdepartement und in dieser Funktion einer der leitenden Köpfe der Basler Schulreform. Nach Basel kam der Appenzeller für sein Biologie-, Mathematik- und Physikstudium. Nach 1976 unterrichtete er am Holbein-Gymnasium und während sieben Jahren parallel dazu auch noch am Lehrerseminar als Didaktiklehrer. 1992 wurde er Rektor am Holbein-Gymnasium, 1997 Rektor am Gymnasium Leonhard, 2002 wechselte er ins Erziehungsdepartement. Politisch war Signer für die SP aktiv – vor allem zwischen 1999 und 2006 als Verfassungsrat Basel-Stadt und Präsident der Kommission Bildung und Religionsgemeinschaften.

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