Warum Leistungslohn ein Unsinn ist, der zunehmende Formalismus schadet und in vielen Schulen das Vertrauen fehlt: Das erklärt der Bildungsfachmann und ehemalige Lehrer Hans Georg Signer im zweiten Teil des Monatsgesprächs. Trotz der Probleme bleibt er aber zuversichtlich – gerade auch im Zusammenhang mit der Digitalisierung.
Herr Signer, setzt die Corona-Krise eigentlich auch positive Entwicklungen in Gang?
Der Digitalisierungsschub ist grandios. Vor «Corona» waren die Schulen in dieser Hinsicht ja zurückhaltend. Da und dort brachten die Schülerinnen und Schüler ihre Laptops mit, die Lehrerinnen und Lehrer waren aber frei, ob und wie sie mit diesen Devices arbeiten liessen. Freiwilligkeit war das oberste Prinzip. Die Folge war mancherorts ein Chaos. Die einen Lehrpersonen nutzten Teams als Lernmanagementsystem, andere setzten auf ILIAS, wieder andere unternahmen gar nichts blieben bei Notizblock, Kreide, Heften, Ordnern und Büchern. Dann kam der Lockdown, Online-Unterricht wurde nötig, die Schülerinnen und Schüler kamen auf den Geschmack und pochten zu Recht auf einheitliche Lösungen etwa bei der Ablage. Diesem Druck können sich nun auch die widerständigsten Lehrer nicht mehr entziehen.
Macht das den Unterricht denn tatsächlich besser?
Ja, es beeindruckt mich, wie zum Beispiel Logopädinnen und Heilpädagogen die individualisierenden Möglichkeiten der Digitalisierung kreativ nutzen. Ganz allgemein plädiere ich aber für Geduld. Erst einmal geht es darum, technisch alles möglichst gut in den Griff zu bekommen. Alles andere wird sich ergeben. Die Lehrerinnen und Lehrer erwarten immer sofort einen pädagogischen oder didaktischen Nutzen. Aber so läuft das nicht. Nicht in Bezug auf die Digitalisierung. Die positive Wirkung auf den Unterricht – etwa auf die Förderung des selbstständigen Lernens – stellt sich mit der Zeit ein, wenn alle die Technik im Griff haben.
Wie verändert sich die Kommunikation mit der Digitalisierung?
Ich persönlich habe da nur positive Erfahrungen gemacht. In der analogen Welt werden Sitzungen häufig von den gleichen Leuten beherrscht, den «Tycoons», und die anderen schweigen. Bei den Teams-Sitzungen arbeiteten wir viel in Zufallsgruppen – und siehe da: Plötzlich melden sich auch ganz andere Kolleginnen und Kollegen und bringen sich mit guten Ideen ein.
Gleichzeitig ist Teams aber auch das beste Mittel, um Menschen stumm zu schalten, im wahrsten Sinne des Wortes.
Diese Gefahren erkannte ich vor allem in einer Schule im Kanton Zürich, wo die Vorschriften extrem rigide waren. Reale Treffen waren verboten und in einer Schule, die ich begleitete, war die Leitung während Monaten gar nie mehr präsent. Sie blieb unsichtbar – ausser wenn sie via Teams ihre Direktiven durchgab. Diese Form der Nicht-Kommunikation ist natürlich sehr schlecht für eine Schule. Es findet eine Entfremdung statt, Phantasien werden aufgebaut und an die Schulentwicklung ist gar nicht mehr zu denken.
Gute Führungspersonen handeln anders: Sie motivieren ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, indem sie ihnen Wertschätzung und Vertrauen entgegenbringen, schrieb Marianne Schwegler, Vizepräsidentin der Freiwilligen Schulsynode Basel-Stadt. Die Praxis sei aber leider häufig eine andere. Trifft die Kritik zu?
Da ist es schwierig, allgemeine Aussagen zu machen. Ich kenne aber Fälle, bei denen man wohl von einem Kontrollzwang sprechen muss. Es fehlt an Vertrauen. Das ist verheerend, weil «Führung» im eigentlichen Sinne des Wortes eine Illusion ist im Bereich der Schule. Einer Schulleitung mit zwei oder drei Persönlichkeiten sind schnell einmal 100 und mehr hochqualifizierte Persönlichkeiten unterstellt. Man kann nicht alles unter Kontrolle haben. Das ist aber auch gar nicht nötig. Lehrerinnen und Lehrer sind in der Regel enorm verantwortungsvolle Menschen, die in der Selbstorganisation super sind.
In Baselland versucht die Regierung, die Lehrpersonen mit Leistungslohn zusätzlich zu motivieren. Ähnliche Bestrebungen gibt es auch in Basel-Stadt. Was halten Sie davon?
Gar nichts, da bin ich ein radikaler Gegner. Ich stehe für ein aufgeklärtes Arbeitsverhältnis; allein den Tauschhandel Arbeit gegen Lohn zu ertragen, ist schwer genug… Da braucht es keine weiteren Almosen, die von gnädigen Herren in Bern, Basel, Liestal oder wo auch immer verteilt werden. Ich halte auch die heutigen Qualifikationen mit ihren vielen ausdifferenzierten Kriterien für falsch. Sie sind nicht geeignet, das Wichtige sichtbar zu machen. Dafür müssten beide Seiten frei und offen sprechen können. Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Ansatz sehr viel direkter auf die heiklen Punkte zu sprechen kommen: Was kann die Lehrerin, der Lehrer, was kann ich als Schulleiter besser machen? Gegenseitiges unverstelltes Feedback bringt beide Seiten voran. Das können auch harte Gespräche sein, aber solche, die einen wirklich weiterbringen, wie die Praxis früher gezeigt hat. Heute dagegen arbeitet man ewig lange Formulare ab und bleibt an der Oberfläche von mässig relevanten Themen hängen. Und sobald dann auch noch der Lohn von den Einschätzungen abhängt, wird das Mitarbeitendengespräch «taktisch». Inhalte verlieren an Bedeutung. Im Extremfall sind solche Gespräche nur noch fake.